eine Gedicht-Empfehlung von Kirstin


Meditation über einen Holunderstrauch


Wir sind eingeschlossen.
Überall gibt es Grenzen:
Zu wenig Geld,
zu wenig Glück,
zu wenig Begabung,
zu wenig Gesundheit,
zu wenig Möglichkeiten,
zu wenig Freiheit.

Überall gibt es Gebote, Gesetze, Forderungen,Weisungen:
Du mußt,
Du sollst,
Du kannst nicht,
Du darfst nicht.
Wer sagt schon einmal ja zu mir,
ohne das Aber folgen zu lassen?

Überall setzt man Bedingungen:
Wenn Du das nicht tust,
dann wirst Du nicht...

Überall treffen wir auf Zäune, Gitter.

Gibt es überhaupt ein Leben ohne Gitter,
ohne Grenzen, Gesetze und Forderungen?
Gibt es ein freies Leben?

Oder ist das Leben nur da,
um uns zu quälen, um uns spüren zu lassen,
wie eingesperrt wir sind?

Ein Trieb stößt an das Gitter.
Wird das Gitter weichen?
Wird er das Gitter sprengen?
Wird er sterben?
Gibt es für diesen Trieb ein Leben hinter dem Gitter?

Oder gibt es Freiheit für dieses Leben?

Der Traum vom großen freien Leben stirbt genau an der Stelle,
wo einer nicht mehr weiter kann.
Nun ist die Frage: Liegt das Leben, das Glück, das Leben
nicht genau hinter den Hindernissen, auf die wir immer stoßen?

Oder ist es gerade dort, wo wir stehen,
wo wir es nicht suchen, und vermuten?

Suchen wir das Leben vielleicht dort,
wo es nach unseren Vorstellungen sein müßte,
und nicht dort, wo es ist,
wo es vor-kommt: in uns selbst?

Der Trieb ist durchgewachsen.
Der Sproß hat sich durch das Gitter gezwängt.
Er hat im Hinderbis eine Ritze entdeckt, ein kleines Loch.
Da hat er es versucht und ist hineingewachsen.

Er weiß nicht, ob diese kleine Ritze genügt,
zum Leben, zum Weiterleben.
Er riskiert es.

Die kleinen Löcher und Ritzen gibt es auch in den Hindernissen,
die unser Leben einmauern. Wir schätzen sie aber zu groß ein.
Wir wagen nicht, durch diese kleinen Löcher hindurchzuwachsen.
Wir wagen es von vornherein nicht. Sie sind zu eng.
Weil wir von vornherein resignieren,
kann das nicht geschehen,
was dem Holundersprößling geschieht:
Er kommt durch.

Der Holunderstrauch ist nicht nur durchgekommen.
Er ist weitergewachsen.
Nach Jahren hat sich ein Stamm gebildet.
Er hat das Gitter umwachsen,
völlig durchwachsen.

Das Unglaubliche ist geschehen:
Das Gitter, das Hindernis ist ein Bestandteil des Stammes geworden.
Es stützt den Stamm, macht ihn standfest.
Die gefährlichste Stelle ist somit die stärkste Stelle für den Strauch geworden.
Würde einer jetzt, das Hindernis, das Gitter entfernen, würde das ganze
Leben des Strauches zerstören.
Frei und vollkommen ist das Leben nicht dort, wo jede Behinderung
ausgeräumt ist, sondern dort, wo die Behinderung durchwachsen,
Bestandteil des Lebens geworden ist.

Wer sieht diesem Holunderstrauch an,
daß er durch ein enges Gitter
gewachsen ist? Wer würde vermuten,
daß gerade das Hindernis seines Lebens
zu seinem Halt geworden ist?

Vielleicht ist jedes Gitter ein Anruf zum weiterwachsen, zum Durchwachsen.

Wahrscheinlich werden wir unseres Glückes
und unseres Lebens auch erst dann inne, wenn wir erfahren,
daß wir Leid tragen können.
Leid tragen ist ja die Überwindung des Leids.
Leid quält den, der es nicht tragen kann oder will.
Wer Leid tragen kann, den drückt es nicht mehr, den trägt es.
Wer sein Leben riskiert,
wer das Widerwärtige durchstößt,
wer das Risiko des Lebens auf sich nimmt,
der kommt zum Blühen.

Wer aber ängstlich allem widrigen,
dem unmöglich Scheinenenden,
dem Risiko aus dem Weg geht,
der verliert sein Leben.

Die Reife, und die Fülle des Lebens wird sichtbar in der Frucht:
Sie ist Nahrung für Vögel und Menschen.
Jede Beere ist aber auch ein Same.
Jeder Same ein neuer Strauch.
Dies alles ist nur möglich, weil der Holunderstrauch nicht vor dem
Gitter kapituliert hat.

Niemand durchstößt seine Gitter nur für sich.
Niemand trägt nur für sich Leid.
Wer vieles durchgemacht hat, in seinem Leben wird standfest.
Er kann vielen Kraft und Hoffnung spenden.
Wer selber durchgekommen ist,
kann anderen den Weg zeigen,
wo auch sie herauskommen können.
Gitter, Hindernisse, Leid der Verzweiflung
bedrängen unser Leben.

Aber das Leben ist größer, stärker.
Es kommt immer wieder durch.
Aber wir glauben es oft nicht.
Wir sagen: Ich bin am Ende.
Hier komme ich nicht mehr weiter.
Meine Kräfte haben nichts, was noch Erfolg verspricht.
Ich bleibe immer hinter Gittern, im Dunkeln, zum verkümmern.

Wer aber Glauben und Hoffnung hätte,
wie der Holunderstrauch,
würde stark,
käme durch,
käme ins Licht,
in die Freiheit.

Denn das Licht zieht immer nach oben.

© Elmar Gruber

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