Lieber Engelbert,

es ist mir grade ein Bedürfnis dir zu danken: dass du es zur Disskussion stellst, deine Meinung - trotz der Kritiken - aufschreibst und mitteilst.

Ich selbst kenne nur "depressive Verstimmungen" - das ist grad mal ein Hauch von Depression - ich kenne dennoch Suizidgedanken und Versuche.

Und ich habe eine Freundin, die Depressionen hat, die einfach nicht anders kann, weil ihr Denken so davon geprägt ist, dass jede Entscheidung die sie trifft davon gefärbt ist - vieles so unverständlich und manchmal möchte ich sie einfach schütteln, damit sie ihren Hintern hoch bekommt.

Dabei weiss ich, dass sie es einfach nicht KANN. Trotz Medikamente und Therapie, trotz Hilfsangebote wie amb. Betreuung und wirklich guter Freunde - es scheint einfach nicht besser zu werden und sie trifft Entscheidungen von denen sie weiss, dass es Mist ist (und gleich ein: ja ich weiß, alles was ich mache ist Mist - hinterherwirft).

Die meisten Depressiven haben so gut wie kein Selbstbewusstsein und der Suizid ist vielleicht die erst Entscheidung die sie "nur für sich" treffen.

Aus meiner suizidalen Zeit kann ich dir sagen: man kann nicht denken, es geht nicht mehr darum dass niemand anderer zu Schaden kommt, man denkt:
ist eh allen egal, man ist nichts wert - so wie ein Zugführer über einen alten Pappkarton fahren würde - der Karton ist mehr wert als ich - warum sollte es ihn also belasten?

Das sind die Gedanken in dem Moment - man kann nicht mehr denken, dass es jemanden was ausmachen würde, denn dann hätte man selbst wieder einen gewissen "Wert" - doch den fühlt man nicht - man fühlt sich geringer als der Dreck unter den Nägeln.

Oder man denkt nur noch: ich kann nicht mehr - oft fehlt die Kraft um Medis zu sammeln oder der Mut sich die Pulsadern aufzuschneiden (was gar nicht so einfach ist) - hohe Brücken oder Häuser sind oft nicht so erreichbar und da man kaum aus dem Bett kommt - sucht man das nächstliegende.

Ich möchte das nicht entschuldigen, nur vielleicht aus einer anderen Sicht versuchen zu erklären.

Mir geht es heute gut - vor einem Jahr gab es eine Wende - doch ich erinner mich noch gut daran und meine Freundin ist heute noch in dem Loch - nur noch gelähmt, unfähig klar zu denken oder etwas zu tun.

Wenn es zu anstrengend ist, die Bettdecke zur Seite zu legen um aufzustehen, oder zu anstrengend auf die Toilette zu gehen, wenn man nur noch funktioniert - weil man "halt muss" - es ist ein Kampf, der über Jahre gehen kann und irgendwann ist einfach auch der Reservetank leer - da hat man nicht mal mehr die Kraft sich umzubringen.

Auch ich lag mal auf den Gleisen - ist schon viele Jahre her - bis heute weiss ich nicht genau was damals passierte, dass ich überlebte. Und ja ich hab an den Zugführer gedacht, aber andere Versuche vorher scheiterten - es war der für mich "sicherste" Weg - und da ich nichts Wert war, war es völlig unverständlich, warum es den Zugführer belasten sollte.

Als ehemaliger Sanitäter hab ich auch zweimal Selbstmörder von den Gleisen geholt - ich kenn also auch diese Seite - und doch: in dem Moment zählt das alles einfach nicht mehr.

Heute - wo es mir gut geht - ist mir diese Sichtweise völlig unverständlich - und doch war sie damals so.

Ich finde deine Beiträge weder geschmacklos noch unverständlich - sie zeigen eine Sichtweise von jemand, der eine tiefe Depression nicht kennt. Doch grade das finde ich so wichtig - denn nur durch solche Disskussionen kann versucht werden zu erklären - von beiden Seiten - und deshalb möchte ich dir dafür danken :-)

liebe Grüsse