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1. Februar 2009


Reif

Der Reif war am Morgen gekommen. Noch eh die Sonne zögerte sich zu zeigen, da sie es nicht erachtete überhaupt sich zu erheben, legte er seine Ketten von kleinen Saphiren, seine wertvollsten Perlen um die Knospen der Kastanie. Er ließ sich fangen von jedem Ding an der Straße, offenbarte die Verstecke der dicken Herbstspinnen, umfasste gespannte Drähte mit zarter aber eisiger Hand wie ein Verstorbener, der die Nacht nicht mehr ganz erlebte.

Reif konnte berühren. Nicht nur durch seine Filigranarbeiten, mehr noch jene, die aufmerksam sahen, was ohne ihn im Unsichtbaren lag. Ein Maschendrahtzaun wurde plötzlich „sichtbar“, ein Draht zwischen zwei Wäschepfählen eine Silberschnur, die im Morgennebel verschwand. In den Gräsern am Teich ließ er keines aus bei seinem Besuch, setzte sie alle in so feines Weiß, dass sie sich selbst kaum wieder erkannten. Die Schwellen zwischen den Schienen offenbarten mit einemmal Strukturen im sonst allgegenwärtigen Braun, ihre Schrauben, die sie an die Schienen drückten erklärten sich zu Freien und ließen die Züge über sich hinweg donnern ohne sich zu beschweren.

Es musste ein Meister gewesen sein, der so etwas vollbrachte und sich die Mühe gab, die rechte Temperatur und Wasser zu finden, um sein Werk zu zeigen. Im Wasserspiegel des Teiches bildeten sich Sprünge über dem Ungrund, und allem was jetzt nicht getaucht war, wurde ab jetzt der Zugang in die Tiefe verwehrt. In gewisser Weise war er begehbar geworden. Auf den Zehenspitzen gedankenoffene Winterfreude, die jetzt schon trug nach nur einer Nacht Reif.

Eine ganze brach liegende Wiese senkte in Trauer ihre Sommerherrlichkeit, und sah ihre Verlierer als verwelkte Rispen und Blüten plötzlich im Morgenlicht. In diesem ganz anderen Licht, das von einer fahlen Sonne die Szene belächelte, doch ohne sie zu berühren. Kraftlos gab sie sich nicht einmal die Mühe, es selbst an den feinen Stielen tauen zu lassen. Relativ uninteressiert ließ gerade sie, die Allmächtige, Stille sein.

Als Spurensucher des Winters hörte ich das Pergament unter den Füßen tuschen, das Gräserbrechen, und hinterließ meine eigene Spur. Das Profil eines Menschen auf der Suche nach einem Motiv im Gras. Eine gelungene Aufnahme mit der Kamera oder doch zumindest die in eine neue gereifte Welt, die aus dem Sommer gelernt hat, an das Absterben nicht denken wollte, und wenn, dann an eine Art Wiederauferstehung in Würde. In gleicher Würde wie eine Wiese, die durch Spinnenpfad und Mauseloch im Gleichklang schien zwischen ihren Büscheln und vergossenen Sonnenblumen, umrandet von einem Draht aus menschengemachter Zweckmäßigkeit. Wie einfach der Draht, dachte ich mir noch und auch wie zauberfein die Wiese.

Ich spürte schon die Aufgeregtheit auf einen in weiter Ferne liegenden Frühling, der im Süden Sommer hieß zur gleichen Stunde. Und alles nur, weil einmal in Bewegung gesetzt, die dicke Kugel es nicht dabei beließ sich nur einfach zu drehen, sondern auch noch zu kippeln wie ein alter Schaukelstuhl, aus dem der Sommer zu schnell gestiegen war. Einige seiner Lieblinge mitgenommen, die ihm nach schwärmten bis in Afrikas Savannen.

An alle Winterschläfer sei gedacht was sie verpassen, was sie nicht glauben würden. Die Tage des Sturms und Regens nicht mitgerechnet, nicht die frostiger Finger und rutschiger Strassen, tränender Augen und Kamillentee. Wer wach wird und geblieben ist, geht diesen Weg der Schönheit und hört das Glucksen unter der Bacheisdecke und sein leises:

"Warte" ...

© Burkhard Jysch  



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