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20. Mai 2009


Heute eine Geschichte, wie sie unser Leben schreibt.

Sie beginnt mit Hoffnung, weint ihre Tränen und trocknet diese auch wieder.


Lieber Engelbert ... in 1974 bekamen wir unsere Tochter, über 4.000 g, gesund und munter.

1975 war ich wieder schwanger mit Termin April 1976. Ich fühlte mich wohl, alles war in Ordnung.

Im achten Monat spürte ich keine Bewegungen mehr. Ich bat meinen Mann, doch mal zu horchen. Ja, er hat etwas gehört.

Trotzdem fuhr ich ein paar Tage später zum Arzt, auch wenn der normale Termin noch nicht war. Er horchte, schubste vorsichtig, meinte dann, es könnte unter einer Darmschlinge liegen. Kommen Sie doch morgen noch einmal. Ok.

Am Abend setzten die Wehen ein. Nachts fuhr mein Mann mich zum Krankenhaus. Na sowas: Die selbe Hebamme wir damals, und das in einem nicht gerade kleinen Krankenhaus. Natürlich habe ich ihr alles erzählt, was ich in der letzten Zeit fühlte oder auch nicht ...

Mein Mann wurde rausgeschickt. Und dann kam Thomas zur Welt, - - - tot. Kein Schrei, nichts. Sie zeigten ihn mir nicht, er war vor 3 Wochen gestorben! Nottaufe.

Ich kam nicht auf die Neugeborenen-Station, wie man das nennt, wo die jungen Mütter liegen. Es war eine Station weit weg von dieser. Dafür war ich wirklich dankbar.

Im Bett neben meinem lag eine junge Frau, die auch ihr Kind verloren hat, das auch schon 3 Wochen tot war. Ihr Blut war angegriffen, so dass sie einen Tropf nach dem andern bekam. Mein Blut war in Ordnung, puuuh. Aber abstillen stand an, ein blöder Begriff, eine noch blödere Prozedur.

Wieder daheim, träumte ich, dass unsere Tochter aus dem Fenster fiel (wir wohnten im 4. Stock!), dann wurde sie aus dem Keller entführt, und in einem anderen Traum fiel sie in den Ententeich.

Von der Krankenkasse kam ein Brief: Herzlichen Glückwunsch zur Geburt Ihres Kindes! usw. usw. ... die Entbindungspauschale in Höhe von 50,-- DM können wir Ihnen leider nicht zahlen.

Wie bitte? – Boah, das war ein Tiefschlag! Thomas kam demzufolge nicht zur Welt?!

Ich rief dort an, Frau Pfeffer am Apparat, den Namen werde ich wohl nie vergessen. Ich fragte sie, wie denn wohl das Kind auf die Welt gekommen sei! Ergebnis: Frau Pfeffer, ich  H A B E  Entbunden! Die ömmeligen 50 DM wurden tatsächlich noch überwiesen.

Mit meinem Mann konnte ich jederzeit über die Zweifel, Ängste, Sorgen, Fragen reden. Es ist dann auch völlig egal, ob einer von uns etwas Vernünftiges von sich gibt oder etwas Unqualifiziertes. Hauptsache: reden!

Ostern ... die Osternacht ... in der Kirche.

Nach „Lumen Christi!“ und als die Kirche endlich hell war, Taufe! Ja tatsächlich, es wurde zum erstenmal in der Osternacht in unserer Kirche ein Baby getauft. Es hätte unser Thomas sein können! Die herrlichen Osterlieder konnte ich nicht mehr mitsingen. Mir war die Kehle wie zugeschnürt. Zum Abschluss der Osternachtsfeier läuteten wie immer alle Glocken. Und ich, schrie und heulte, schrie um mein Leben. Gott sei Dank hörte es niemand ... die Glocken waren laut ...

Der Weg war nicht sehr lang bis zu Hause. Aber nun war es überstanden! Die Träume kamen nicht mehr.

Mit unserer Tochter ging ich natürlich wieder oft nach draußen. Ich wurde von sehr vielen Frauen angesprochen. Sie hatten mich schwanger gesehen, und nun doch keinen Kinderwagen! Bei diesen Gesprächen fiel mir auf, dass mindestens die Hälfte von ihnen das Gleiche hinter sich haben, ob nun Frühgeburt, Totgeburt oder kurz nach der Geburt.

Unserer Tochter haben wir erklärt, dass ihr kleiner Bruder Thomas im Himmel ist. An seinem Namenstag und Geburtstag gab es Kuchen. Mit den Jahren wurde es weniger. Und inzwischen denken wir zwar noch an ihn, mehr aber nicht. Gesprochen wird eigentlich gar nicht mehr über ihn.

Und über die Frau Pfeffer kann ich heute lachen. Sie musste die Formulargläubigkeit ihres Arbeitgebers ausbaden.

Und ich bin dankbar, dass uns eine sehr schwere Zeit mit einem furchtbar kranken Kind erspart blieb.

Dieses Sprechen miteinander hat uns immer wieder geholfen, uns beiden. Denn dieses war natürlich nicht der einzige Schicksalsschlag in unserem Leben.

Übrigens ist mein Mann nicht gerade in einer Familie aufgewachsen, in der man sehr liebevoll miteinander umging. Ich habe ihn schon einmal gefragt, ob er vertauscht worden sei, grins. Doch kann man die äußere Ähnlichkeit mit seinem Bruder nicht übersehen.

Wir sind glücklich, bis jetzt nicht wirklich krank, ausgenommen ein paar Zipperlein ab und an.

Wir unternehmen kurze Urlaube, die uns immer wieder Kraft und Erholung bringen.

Unsere Tochter hat in diesem Jahr geheiratet.

Liebe Grüße
Bärbel - minibar



Danke, Minibar, dass ich Deine Geschichte hier im Kalenderblatt veröffentlichen darf.

Leben ... niemand hat gesagt, dass es einfach sei.
Unser Weg führt uns durch unwegsame Schluchten, über Höhen, durch Blumengärten und dann sind es wieder Schotterpisten, die durch Geröllhalden führen ... auf einer solchen Piste laufen zu müssen ... das fühlt sich an, als würden wir das barfuß tun ... da kann man sehr gut verstehen, wenn man nicht mehr weiter laufen will.

Doch was würde dann passieren ? Wir stünden den Rest unseres Lebens auf der Schotterpiste und blickten auf die Geröllhalden.

Nur das Weiterlaufen führt uns zu anderen Wegen. Sicher sind diese auch oft steinig, aber nicht nur. Die Wege des Lebens ändern immer wieder ihre Beschaffenheit. Die Aussicht wechselt ebenfalls. Ein Weg führt nie immer durch ein Tal ... es sei denn, wir laufen nicht weiter.

Ich wünsche jedem, dessen Weg gerade durch ein Tal führt, dass er oder sie weiterläuft. Immer weiter ... bis zur Bank mit der guten Aussicht. Diese Bank kommt immer wieder ... wenn man darauf vertraut und sich auf den Weg macht.



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