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Fotos: Andrew Butko - Lizenz: CC by sa 3.0
 

15. Juni 2014

Asphaltiges

Weiß der Himmel wie er hier her gekommen ist.
Jedenfalls sitzt er da gleich neben der Bank
mit dem blauen Schriftzug, hat seine Geige fest im Griff
und entlockt ihr Klänge.

Eine Musik, die ich mit Weite, endlosen Birkenwäldern,
Bären und vergoldeten Domkuppeln verbinde.

Eine Musik aus dem ehemaligen Russland.

Vor sich den Geigenkasten, in dem sich ein paar Münzen verlieren,
die er nachher einsammeln wird, um weiter zu ziehen.
Zu einem anderen Ort in einer anderen Stadt.

Ich sehe ihn nicht im Vorbeigehen,
nehme ihn mehr aus dem Augenwinkel wahr,
höre die Melodie erst leise, dann direkt neben mir, dann wieder leise.
Sie kommt mir sehr bekannt vor.

Hinter mir verliert sich das alles.
Die blaue Schrift der Bank, der Mann im Schneidersitz,
die Birkenwälder, die vergoldeten Kuppeln,
nur die Melodie bleibt taktvoll noch bei mir, als wollte sie fragen:

„Kennst du mich nicht?“

Und schon fällt mir der Komponist wieder ein,
die Leuchtbuchstaben über der Konzerthalle, die ihn ankündigen.
Es ist ein ganz Großer!
Ob er wohl jemals daran gedacht hat,
dass Menschen seine Werke gleichermaßen vor großem Publikum,
wie auf dem Asphalt einer Fußgängerzone aufführen?

Vielleicht ist es die Seele, die in der Melodie steckt,
die heraus will, um sich in Freude zu verwandeln?

Vielleicht ist es das, was verloren geht,
wenn man zu schnell unterwegs ist und nichts mehr hört?

Auf jeden Fall sind es ein paar Noten über einen Frühling,
der in der Lage ist, ein ganzes Land aus dem Frost zu befreien.
Ein Land, das einst Russland war.

[ Burkhard Jysch ]
 






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