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21. Oktober 2020



Das Wunder am Gleis

Wer weiß schon genau woher es kam?
Wahrscheinlich war es im Süden auf abenteuerliche Art im Sog des Zuges mitgerissen worden,
hatte sich im Gewirr seines Unterbaus verklemmt, und den langen Weg
nach Norden völlig unbemerkt zurücklegen können.

Bei den zahlreichen Stopps in den Bahnhöfen mit großen Namen
konnte es sich aus eigener Kraft nicht entschließen abzuspringen.
Es war noch nicht die Zeit dazu.

Ohne jegliche Eile, die im Widerspruch zu allem stand,
was im Zug saß oder ihn nach vorn trieb,
war das Samenkorn zu einem Mitreisenden geworden.

In seinem Innern verborgen war Blatt und Blüte,
war alle Information eines geeigneten Standortes,
sowie der Boden, in den es zu sinken galt.
Der richtige Boden, um ein neues Leben zu beginnen, und sei es in der Ferne.

Es hätte leicht enden können.
Ein Abkoppeln des Waggons, eine turnusmäßige Hochdruckreinigung,
ein Fahrplan in die falsche Richtung.
Es gab so viele Beispiele für das Schicksal eines Reisenden, die alles sofort beenden konnten.
Im Sog des Zuges und der Zeit hielt es sich fest und raste auf ein unbekanntes Ziel zu.

Vom Beginn seiner Reise im Spätsommer bis jetzt war der Herbst übers Land gezogen,
mehrere Stürme hatten den Bahnhang bedrängt, der von drückenden Schwellen und Schienen nieder gehalten wurde,
und jedes Mal wenn ein Zug die Stelle passierte an der es fiel konnte es sein, dass es den Halt verlor.

Im Winter drohte es vom Wasser mitgerissen zu werden.
Aber es hatte Glück.
Zwischen den grauen Schottersteinen hatte sich feiner Sand gesammelt.
Er war feucht, und im beginnenden Frühling warm durch die Sonne.
Warm wie in seiner Heimat.

Das Blümchen, das aus ihm spross wurde nie beachtet.
Dazu war es zu unscheinbar.
Selbst seine violette Blüte sorgte unter den Insekten eher für Verwunderung, als dass sie sich annäherten.

Am Tag des Ereignisses stellte eine Gestalt sein klappriges Rad an die Seite eines Bahnüberganges.
Der Mann zögerte etwas, als er einige Meter am Bahndamm entlang ging,
gleich unterhalb der Schienen auf die Stadt zu, die sein neues Zuhause sein sollte, aber nie sein würde.

Seinen Entschluss fasste er längst, stand dieser doch fest nach seiner Vertreibung im Krieg,
dem Gefühl der Kälte im Land, dessen Sprache er nicht sprach.
Seine Aufenthaltsablehnung kam vor wenigen Wochen.
Er wollte nicht zurück und durfte nicht bleiben.

Beim Blick auf seine Uhr müsste es schnell gehen, der Zug hatte hier Reisegeschwindigkeit.
Es gab an dieser Stelle mehrfach erschütternde Versuche diesen Weg zu gehen.
Den letzten aller Wege.

Als er am Hals den kalten Stahl der Schienen spürte erschrak er über die Kälte,
über sich selbst, seinen Willen und seine Unsicherheit es tatsächlich zu tun.

Bis er die Blume sah.

Auf Augenhöhe stand da etwas Kleines, Blühendes, das wie er hier nicht heimisch war,
etwas, das ihm vom fernen Daheim als blühender Teppich wohl bekannt war.
Ohne Nachzudenken erhob er sich, ging zurück zu seinem Fahrrad,
während in seinem Rücken der Zug vorbei rauschte.
Er hatte eine leichte Verspätung.

[ Burkhard Jysch ]
 



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