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24. Oktober 2008

Gestern, da ging es um unsere Worte, wie wir mit Krankheit umgehen, entweder als Betroffener oder als jemand, der damit bei Dritten konfrontiert wird.

Heute geht es um Sylvie, die Seelenfärblerin, die ich angemailt hatte. Mit der gestern veröffentlichten Mail, in der ich ihr mein "Rumgeeire" erklärt hatte.

So sah Sylvies Antwort aus:



Das Ihnen/Dir steht deswegen drin, weil sie mich duzte und ich sie siezte ... was ab sofort in beiderseitiges "Du" geändert wurde.

Meine Antwort ...



... worauf Sylvie mit diesen Zeilen antwortete:




Verständnis hatte ich ... war aber gar nicht nötig, denn eine halbe Stunde später hatte ich in meinem Postfach eine authentische und sehr lesenswerte Schilderung der Gedanken einer Frau, die an multiple Sklerose erkrankt ist ... Sylvie schreibt:

Vorab eine Anmerkung: alles was ich hier beschreibe sind meine Empfindungen, Wahrnehmungen, Wünsche und Strategien. Ich schreibe nicht stellvertretend für alle MS-Betroffene Jeder Mensch empfindet und reagiert anders, ob MS-betroffen oder nicht!

Meine MS
• Unterscheidet sich vollkommen vom Verlauf anderer Betroffener (diese Krankheit ist so individuell wie wir Menschen)
• Begleitet mich (48 Jahre) seit 15 Jahren, hat sich in dieser Zeit immer wieder mal kurz gemeldet und verschwand dann wieder. Seit 2 ½ Jahren ist sie mein ständiger Begleiter und erinnert mich seitdem täglich daran, dass nichts, aber auch gar nichts im Leben selbstverständlich ist
• Hat mich innerhalb von 9 Monaten zu einer 50%igen "Behinderten" gemacht – wobei ich mich nicht als behindert bezeichne.
• Ist so vielgestaltig, dass ich hier nur einen Bruchteil von ihr wider geben kann
• Ist inzwischen Bestandteil meines Lebens, auch wenn ich darauf verzichten könnte.
• IST MEINE NORMALITÄT

Ich schäme mich:
• Wenn ich in der Stadt laufe, ständig stolpere, mich langsam wie eine sehr alte Frau bewege, dabei die Blicke der Menschen sehe/spüre. In viele Gesichter ist die Frage geschrieben: hat die getrunken, kann die nicht mal ein bisschen ihren Hintern bewegen ?
• Wenn ich Besuch habe und deren Blicke sagen: "Du könntest auch mal wieder Fenster putzen, saugen etc."
• Wenn ich manchmal etwas lallend spreche, Wörter verdrehe, ich schon wieder was vergessen habe, und dann kommt ein: "das hab` ich Dir doch gestern gesagt!"
• Wenn ich sagen muss: da will ich nicht hingehen (weil keine Toilette in, für mich, greifbarer Nähe ist)

Ich werde ärgerlich (manchmal auch wütend):
• Wenn sich Menschen hastig an mir vorbeidrängen, obwohl ich offensicht-lich humpele, langsam laufe und dadurch aus dem Gleichgewicht komme
• Wenn jemand von meiner Krankheit weiß und unbedarft sagt sagt: Du musst ein bisschen rausgehen an die Luft, Du musst Dich mehr bewegen, sonst wirst ja ganz steif
• Wenn jemand von meiner Krankheit weiß und unbedarft sagt: "Ich würd` mich krankschreiben lassen" (Meine Schmerzen werden nicht besser wenn ich krankgeschrieben bin und meine Fußheberlähmung wird auch nicht besser)
• Weil ich mit 50%Schwerbehinderung noch keinen Euro-Schlüssel für die Behinderten-Toilette kriege (Gibt’s erst ab 80%) :((.

Ich bin traurig:
• Wenn ich merke dass sich Menschen zurückziehen, weil sie Scheu haben mit mir zu reden, weil ich Unternehmungen öfters absagen muss, weil ich nicht mehr so flexibel bin,
• Weil ich Dinge, die ich geliebt habe (Reisen, Bergwandern, Trekkingtouren, Fahrrad fahren, Tanzen, lange Spaziergänge, spontane Wochenendtouren und noch so einiges mehr) nicht mehr tun kann
• Wenn selbst Menschen in meinem engen Umfeld nicht verstehen warum ich etwas, was ich gestern getan hab, heute nicht tun kann, aber vielleicht/wahrscheinlich morgen wieder tun kann
• Weil ich nicht mehr Auto fahren kann

Wenn jemand von meiner Krankheit erfährt:
• Dann soll er nicht so tun als sei alles in Ordnung. (Keine falsche Vorstellung, der Film der bei fast jedem übers Gesicht läuft ist deutlich zu sehen und zu spüren)
• "Ach du Arme" und "Du bist tapfer" kann ich auch nicht brauchen (Bin ich tapfer wenn ich etwas nicht mehr kann????)
• Wäre es schön wenn man mich fragt: Was machst Du jetzt? Oder: Wie äußert sich das? Oder: Muss ich was beachten? Oder: Kann man das behandeln? – All diese Fragen ermöglichen es mir mit demjenigen ins Gespräch zu kommen, von der Krankheit und ihren Symptomen zu erzählen, vor allem von den Symptomen die man nicht sieht :((.
• Werde ich fuchsteufelswild wenn man mich z.B. beim Einkaufen dauernd fragt: "geht’s noch?" (Wenn`s nämlich nicht mehr geht, dann setz ich mich hin oder sag, ich muss jetzt nach Hause)

Ich werde neidisch:
• Wenn ich sehe wie jemand Treppen herunter springt
• Wenn jemand Flip-Flops oder offene Schuhe trägt ... ich verlier sie inzwischen leider dauernd :((
• Wenn jemand innerhalb eines Vormittages Küche und Bad putzen kann, Wäsche wäscht und diese auch noch aufhängt ;-)

Ich möchte:
• Noch solange wie möglich arbeiten
• Nächstes Jahr mal wieder auf einen Berg ... muss ja nicht unbedingt zu Fuß hoch ;))
• Noch mal in die Wüste und nach Afrika und nach ... ... ... es gäbe noch viele Ziele :))

Ich freue mich:
• Dass meine Tochter meine Sonne ist
• Dass es mir gut geht (Dass ich MS habe bedeutet nicht zwangsläufig dass es mir schlecht geht)
Und: zwischen gut gehen und gesund sein ist ein himmelweiter Unterschied
• Dass meine Tochter nächstes Jahr mit mir ans Meer fahren will
• Dass ich in 10 Min. am See bin, die Segelboote sehe, das Wasser sehe und höre und dann ein bisschen das Gefühl habe ich bin imSüden
• Über die Farben in der Natur, das Wachsen, Blühen, Vergehen und Wachsen
• Dass ich in meinem Leben schon so viel gesehen, erreicht und erkämpft habe (und will das auch weiter tun)
• Dass ich über mich selber lachen kann und mich nicht zu ernst nehme
• Dass ich mich nicht mehr über "alles" ärgere
• ÜBER DAS LEBEN


So wichtige Worte ... weil wir so wenig wissen. Weil wir, je mehr wir wissen, umso besser mit Krankheit und Erkrankten umgehen können. Ich war bei aller Traurigkeit und Dramatik einfach nur begeistert von dieser Zusammenfassung ... und habe das Sylvie auch geschrieben:



Sylvie Antwort darauf:



Sylvie sagte auch noch, dass sie das gar nicht mag, wenn so viel Aufhebens um ihre Person gemacht wird und das sie nur eine ganz normale Frau ist. Die sich unter anderen auch sehr gerne mal mit anderen Seelenfärblerin treffen möchte, in Konstanz, wo sie wohnt.

Diese Normalität will ich ihr auch gar nicht nehmen, denn unnormal ist in ihrem Leben genug, so dass ich so viel Normales als möglich wünsche.

Aber wäre sie so wie andere, gäbe es heute dieses Kalenderblatt nicht. Durch Ihre Offenheit und ihre wirklich gut formulierten Worte hat sie uns ein Fenster geöffnet ... in eine Welt, die zu entdecken so nachdenklich macht wie sie interessant und wichtig ist. Danke dafür !!



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